Angesichts eines neuen atomaren Super-GAU, also einer Atomkatastrophe, die das schlimmste für denkbar gehaltene Maß übertrifft, ist es wichtig, dass über den Super-GAU von vor 25 Jahren endlich Klartext gesprochen wird. Die gesundheitlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der menschengemachten Katastrophe werden auch heute noch in eklatantem Maß heruntergespielt im Interesse der Atomwirtschaft und der Regierungen.

Gesundheitliche Folgen

Auch hierzulande verbreitet beispielsweise die Deutsche Presseagentur (dpa), „zwischen 10.000 und mehr als 100.000 Todesopfer hat die Atomkatastrophe je nach Sichtweise bislang gefordert“. Tatsächlich ist schon allein bei den sogenannten Liquidatoren, also den Aufräumarbeitern, die zum Kraftwerk geschickt wurden, von deutlich über 100.000 Toten auszugehen. Die renommierte internationale Organisation der ÄrztInnen gegen den Atomkrieg (IPPNW), die sich seit langem mit den Folgen gerade auch niedrigerer Strahlung befasst hat, schätzt die Zahl der Aufräumarbeiter auf etwa 830.000, von denen bereits bis zum Jahr 2005 vermutlich 112.000 bis 125.000 an den Folgen ihrer Verstrahlung gestorben sind. Die bisher überlebenden Aufräumarbeiter sind inzwischen fast ausnahmslos erkrankt (selbst offizielle russische Stellen sprechen von 90% Invaliden). Aber die Aufräumarbeiter am Kraftwerk sind ja nur ein Teil der Opfer der Atomkatastrophe, deshalb ist es infam, dass dpa und andere immer noch so tun, als könne deren Zahl möglicherweise auch nur im Bereich von 10.000 liegen.

Solche sich seriös gebende Darstellungen zu den Tschernobylfolgen übernehmen auch hierzulande meistens die Angaben des sogenannten Tschernobylforums der Vereinten Nationen, in dem die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Regierungen ihre Einschätzungen aufeinander abstimmen. Die Verlautbarungen des Tschernobylforums sind jedoch durchaus zweifelhaft. „Ihre Darstellungen der Folgen von Tschernobyl haben mit der Realität wenig zu tun,“ wie die IPPNW an einige Beispielen ausführen.

Das Tschernobylforum berücksichtige auch nicht, dass sogar der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) die Kollektivdosis für Europa außerhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion höher einschätze als die Kollektivdosis für die Tschernobylregion. Die Kollektivdosis infolge der Katastrophe verteilt sich demnach zu 53 Prozent auf Europa außerhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion, zu 36 Prozent auf die betroffenen Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, zu acht Prozent auf Asien, zu zwei Prozent auf Afrika und 0,3 Prozent auf Amerika.

Relativ bekannt ist der Zusammenhang zwischen radioaktiver Belastung und Krebserkrankungen. Schon ohne GAU ist im Umkreis von Atomkraftwerken eine Häufung der Krebsfälle statistisch belegt, wie etwa beim 1994 stillgelegten nordrhein-westfälischen AKW Würgassen bei Paderborn, wo bereits im fünften Jahr des Regelbetriebs eine Zunahme der Kinderkrebsfälle im Umkreis festgestellt wurde. Der Strahlenphysiker Dr. Mikhail Malkow aus Minsk rechnet laut IPPNW allein für Europa mit 90.000 Krebsfällen durch Tschernobyl.

Besonders folgenschwer sind die genetischen Schädigungen durch Tschernobyl, so die ÄrztInnen-Organisation: „Genetische und teratogene Schäden (Fehlbildungen) haben sowohl in den drei unmittelbar betroffenen Ländern als auch in mehreren Ländern Europas signifikant zugenommen. Allein in Bayern kam es nach Tschernobyl zu 1.000 bis 3.000 zusätzlichen Fehlbildungen. Es ist zu befürchten, dass es in Europa strahlenbedingt zu mehr als 10.000 schwerwiegenden Fehlbildungen kam.“ Nach den Zahlen der UNSECAR kommt man auf 12.000 bis 83.000 mit genetischen Schäden geborene Kinder in der Tschernobylregion und etwa 30.000 bis 207.500 genetisch geschädigte Kinder weltweit. In der ersten Generation finde man jedoch nur zehn Prozent der insgesamt zu erwartenden genetischen Schäden, so die IPPNW. Die IAEO schätzt, dass es in Westeuropa zu 100.000 bis 200.000 tschernobylbedingten Abtreibungen kam.

Die Gesamtzahl der Tschernobylopfer ist sehr schwer zu schätzen. Einige Experten halten sogar insgesamt bis zu 1,8 Millionen bisherige und künftige Todesfälle wegen Tschernobyl für möglich.

Wirtschaftliche und politische Folgen

Mehr als 100.000 Menschen mussten ihren Wohn- und Lebensraum im Gebiet des Reaktorunglücks verlassen. Viele der Tschernobylgeschädigten erhalten bis heute kaum die notwendige Hilfe. Die genauen wirtschaftlichen Folgen Tschernobyls sind wegen der kompletten Änderung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in den Folgejahren nicht genau zu ermitteln. In einem Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen schätzte das sowjetische Finanzministerium die direkten wirtschaftlichen Verluste und die Ausgaben infolge der Katastrophe für den Zeitraum von 1986 bis 1989 auf etwa 9,2 Milliarden Rubel. Das entsprach etwa 12,6 Milliarden US-Dollar. Noch heute gibt die Ukraine alljährlich etwa 5 % ihres Staatshaushaltes für die Tschernobylfolgen aus. Zugleich sind ganze Regionen der Ukraine nicht mehr nutzbar und Produkte aus dem Land schwer verkäuflich, dies betrifft besonders die Land- und Forstwirtschaft.

Unterschätzt werden womöglich auch die politischen Folgen. Viele Zeitzeugen aus Osteuropa berichten zum Thema Tschernobyl, dass der skandalöse Umgang mit der Atomkatastrophe ihr bis dahin bestehendes Vertrauen in den fürsorglichen Staat zerstört hätte. Nach Aussagen von Michail Gorbatschow ist selbst er als Generalsekretär der KPdSU in den ersten 48 Stunden nicht annähernd wahrheitsgemäß über das Ausmaß der Atomkatastrophe informiert worden. Als sich die auch von ihm zunächst unterstützte Strategie der systematischen Vertuschung und Verharmlosung nicht mehr ungebrochen aufrechterhalten ließ, wurde der Umgang mit Tschernobyl zum ersten Anwendungsfall seiner neuen Strategie einer neuen Offenheit. Wenige Jahre später kam es zu den größten politischen Umbrüchen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Und Japan?

Über die Folgen von Fukuschima sind heute natürlich noch nicht viele Aussagen möglich. Viele Eckdaten sind deutlich unterschiedlich von Tschernobyl. Dazu gehört in negativer Hinsicht leider auch der Umstand, dass Japan ganz erheblich dichter besiedelt ist als die Ukraine.

Spürbar ist bereits, dass die Atomkatastrophe auch in Japan schwere politische Folgen haben kann. Auch in Japan erodiert ein System, das bisher sehr fürsorglich den Einzelnen im Kollektiv aufzuheben versprach. Das System, das die ArbeiterInnen relativ sicher ein Leben lang in ihrem Betrieb absicherte, ist schon vor Fukuschima nur noch für einen Teil der Bevölkerung verfügbar. Millionen leben in prekären Beschäftigungsverhältnissen zwischen Leiharbeit und Tagelöhnerei. Mit den Lügen der Betreiberfirma Tepco und der Hilflosigkeit der Regierung steht Japan jetzt womöglich auch vor einem eklatanten Vertrauensverlust, der gekoppelt mit der verschwindenden sozialen Sicherheit weitreichende politische Folgen haben könnte.

Filmfoto: Sven Teschke, CC BY-SA 3.0 de, Link