Ein Jahr nach dem verhängnisvollen Erdbeben in Japan geht es in der internationalen Öffentlichkeit vor allem um die Deutungshoheit über die Ursachen der Atomkatastrophe im AKW Daiichi (Fukushima I). Gab das Erdbeben oder der folgende Tsunami den entscheidenden Ausschlag, dass der Atomunfall unbeherrschbar wurde? Die Antwort ist nicht unbedeutend, wenn man Rückschlüsse auf die globale Gefährdungslage durch Atomkraftwerke ziehen möchte. Die betroffenen Menschen in Japan fühlen sich unterdessen oftmals im Stich gelassen.
Um 14.46 Uhr japanischer Zeit (6.46 Uhr MEZ) erschütterte das Tōhoku-Erdbeben Japan. Vierzig Minuten später erreicht die erste Tsunami-Welle das AKW Fukushima-Daiichi. In Darstellungen, die oft aus dem Umfeld der Atomindustrie stammen, wird der besondere Fall, dass dem schweren Erdbeben auch noch ein Tsunami mit bis zu 15 Meter hohen Wellen folgte, als Ursache dafür angegeben, dass der Atomunfall trotz aller Sicherheitssysteme außer Kontrolle geriet.
In einer am Dienstag (6.3.2012) veröffentlichten Analyse der deutschen Sektion der atomkritischen ÄrztInnenorganisation IPPNW wird dieser Behauptung widersprochen. Bereits unmittelbar ab 14.46 Uhr seien entscheidende Sicherheitssysteme der Anlage ausgefallen, lange vor Eintreffen der Tsunami-Wellen. In der Analyse wird auch die Höhe der Tsunami-Welle angezweifelt. Für die behauptete Höhe von 14 bis 15 Metern gebe es keine Belege, wahrscheinlicher sei, dass die höchste Welle im Bereich des AKW Daiichi etwa 8 Meter erreichte. Bemerkenswert sei, dass im Unterschied zum AKW Daini (Fukushima II) vom AKW Daiichi (Fukushima I) keine Bilder bekannt seien, die das Gelände überflutet zeigen:
„Keines der Fotos im Bericht der japanischen Regierung, die eine Überflutung beweisen sollen, zeigt eine Überflutung von sicherheitsrelevanten Gebäuden oder Sicherheitseinrichtungen.“ (Henrik Paulitz, IPPNW: Der Supergau von Fukushima, S. 48)
Die Diskussion über solche Details befremdet, aber es geht hier keineswegs um Haarspalterei. Es geht einerseits darum, dass die Betreiber gerade in Japan mit der Gefahr von Erdbeben jederzeit rechnen mussten. Die Frage ist also, ob ihre Vorkehrungen gegen die vorhersehbaren Erdbeben ausreichten. Andererseits ist die internationale Atomwirtschaft sehr daran interessiert, die Katastrophe auf das Zusammentreffen besonders tragischer Umstände zurückzuführen. Weltweit gibt es viele AKWs in seismisch aktiven Gebieten, aber nur einige davon könnten zugleich von einem Tsunami betroffen sein.
Henrik Paulitz und Reinhold Thiel von der IPPNW sind überzeugt, dass bereits durch das Erdbeben allein die Atomkatastrophe ausgelöst wurde, insbesondere weil die Sicherheitsausstattung in Fukushima zahlreiche schwere Mängel aufwies. Deshalb habe vermutlich auch bereits am ersten Tag deutlich vor 17 Uhr die Kernschmelze in Block I begonnen, die gegenüber den Medien noch tagelang bestritten wurde. In einer Reportage des ZDF erläutert der konservative japanische Abgeordnete Taro Kono die Sicherheitspolitik der japanischen Atomlobby:
„Sie haben immer erklärt, Atomunfälle können in Japan nicht passieren. […] Sogar die Lokalregierungen wurden nicht auf die Gefahren hingewiesen. Es hieß immer nur: 'Ihr braucht euch auf den Ernstfall nicht vorzubereiten, weil es ihn schlicht nicht geben kann.'“ („Die Fukushima-Lüge“, ZDF am 7.3.2012)
Seit Jahrzehnten fälsche Tepco systematisch sicherheitsrelevante Berichte selbst über schwere Zwischenfälle, so der konservative ehemalige Gouverneur von Fukushima, Eisaku Sato in der ZDF-Reportage. Auch Naoto Kan, der inzwischen zurückgetretene sozialdemokratische Premierminister, beklagt den unkontrollierbaren Einfluss der Atomkonzerne, die eng mit der Politik und den Atomaufsichtsbehörden verwoben sind. Über 100 Abgeordnete erhalten Geld von Tepco. So verwundern die erheblichen Sicherheitsmängel in Fukushima kaum, angefangen bei so einfachen Dingen, dass für die Blöcke 2 und 3 des AKW Daiichi keine Feuerwehr zur Verfügung stand, weil alle Einheiten für Block 1 gebraucht wurden und externe Feuerwehren wegen des Erdbebens nicht zur Verfügung standen. Naoto Kan bezeichnet die Gesetzeslage als gänzlich ungeeignet, beispielsweise sei die Noteinsatzzentrale für das AKW Daiichi fünf Kilometer entfernt und es habe keinerlei Vorschrift für Pläne gegeben, wie diese Distanz bei einem Erdbeben denn überwunden werden sollte.
Es gab aber sogar technische Umstände, die in der älteren Anlage vorteilhaft waren:
„Auf der anderen Seite erwies sich die Ausstattung mit passiven, bzw. nur mit Dampf und Batterien betriebenen Sicherheitssystemen in Fukushima als Vorteil, etwa gegenüber den in Deutschland noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken. So verfügten die stillgelegten älteren Siedewasserreaktoren ebenso wie der stillgelegte deutsche Druckwasserreaktor Biblis A noch über Dampfgetriebene Einspeisesysteme. Die derzeit in Deutschland betriebenen Atomkraftwerke hingegen nicht.“ (IPPNW-Bericht, S. 2)
Weil immer noch wesentliche Daten vorenthalten werden und Tepco nicht vertraut werden könne, forderte Kans Vorgänger Yukio Hatoyama Ende 2011, Tepco die Zuständigkeit für die havarierten Kraftwerke zu entziehen. Denn längst ist die Lage in Fukushima nicht gesichert: Einerseits sind stetige Maßnahmen erforderlich, um zu verhindern, dass die Lage in den Blöcken I bis III erneut außer Kontrolle gerät. Andererseits stellt gerade Block IV eine enorme Bedrohung dar. Im Abklingbecken des ebenfalls stark beschädigten Gebäudes sind nämlich noch rund 1300 gebrauchte Kernbrennstäbe gelagert, im Stockwerk darüber noch neue Brennstäbe, wie ein japanischer Atomingenieur in der ZDF-Reportage berichtet. Bei einem erneuten Erdbeben könnte das Gebäude einstürzen und eine Kernschmelze unter freiem Himmel ausgelöst werden, „die das Ende Japans bedeuten würde, wie wir es heute kennen“, so der ZDF-Kommentar. In der Folge sei zu befürchten, dass dann auch Blöcke I, II, III, V und VI außer Kontrolle geraten.
Foto: Digital Globe - Earthquake and Tsunami damage-Dai Ichi Power Plant, Japan, CC BY-SA 3.0, Link