Glückliches Rheinland! Glückliches Westfalen! In unserem Bundesland ist kein einziges Atomkraftwerk in Betrieb. Aber ist NRW deshalb wirklich eine Anti-Atom-Zone? Wagen wir einen genaueren Blick auf die Atomanlagen in und um NRW.

Atomkraftwerke in NRW

Dass in Nordrhein-Westfalen keine Atomkraftwerke im regulären Betrieb sind, war nicht immer so. 1967 wurde in Jülich zwischen Aachen und Köln ein Versuchskraftwerk errichtet, das bis 1988 in Betrieb war. Seine strahlenden Überreste lagern derzeit in 153 Castorbehältern vor Ort in einer Halle mit auslaufender Betriebserlaubnis. Nach der in Jülich geprobten Bauweise wurde 1983 der Thorium-Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop in Betrieb genommen, dieser aber bereits nach sechs Jahren wegen Sicherheitsproblemen wieder eingestellt.

Das erste kommerziell betriebene Atomkraftwerk in NRW war 1975 das AKW Würgassen der Preussen-Elektra (heute Eon) am östlichsten Zipfel von NRW, im Kreis Höxter zwischen Paderborn und Göttingen. Bereits 1980 stellte eine Studie eine erhöhte Kinderkrebsrate im Umkreis des AKW Würgassen fest. Das AKW Würgassen wurde jedoch erst 1994 wegen Rissen im Stahlmantel des Reaktorkerns abgeschaltet.

Auch wenn diese Anlagen nicht mehr im regulären Betrieb sind, sind ihre Hinterlassenschaften noch lange nicht aus der Welt. Sie wirken sich womöglich auch immer noch auf die Krebsraten der in ihrer Umgebung lebenden Menschen aus, jedenfalls erklärt die Ärzteorganisation IPPNW, dass auch niedrige Strahlung gesundheitliche Auswirkungen hat und es keine Grenzwerte für Unbedenklichkeit gibt.

Gar nicht erst in Betrieb genommen wurde der sogenannte schnelle Brüter in Kalkar (Kreis Wesel), dessen Fertigstellung 1991 aufgegeben wurde. Ein 1975 ebenfalls im Kreis Wesel geplantes AKW in Vahnum (bei Xanten) wurde nie realisiert, angeblich ist das Gelände allerdings immer noch als möglicher Standort für ein Großkraftwerk ausgewiesen.

Atomkraftwerke nahe NRW

1968 nahm das Atomkraftwerk Lingen der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (heute RWE) im niedersächsischen Emsland seinen Betrieb in etwa 15 Kilometern Abstand zur Grenze Nordrhein-Westfalens auf. Es wurde 1977 nach einem Schaden im Dampfumformersystem stillgelegt und durch das AKW Emsland in Lingen ersetzt, das 1988 ans Netz ging und bis heute genutzt wird. Eigentümer sind RWE und Eon. Die Anlage, zu der auch ein Atommüllager gehört, liegt etwa 25 Kilometer von Rheine und 60 Kilometer von Münster entfernt.

Auch das Atomkraftwerk Grohnde bei Hameln, das seit 1985 bis heute in Betrieb ist, liegt keine 20 Kilometer von NRW bzw. 60 Kilometer von den Städten Bielefeld und Paderborn entfernt. Das AKW gehörte in den 1980er und 1990er Jahren zu den leistungsstärksten Atomkraftwerken der Welt. Die Abschaltung des Kraftwerks, das Eon und den Stadtwerken Bielefeld gehört, ist für das Jahr 2032 vorgesehen.

Zwei weitere – bereits abgeschaltete – Atomkraftwerke befinden sich in weniger als 30 Kilometern Nähe zu NRW: das niederländische AKW Dodewaardt bei Nimwegen, das von 1968 bis 1997 in Betrieb war, und das nur von 1986 bis 1988 in regulären Betrieb gegangene AKW Mülheim-Kärlich nahe Koblenz, das einem in Luxemburg ansässigen Tochterunternehmen der RWE gehört. Der Standort im Neuwieder Becken gilt als leicht erdbebengefährdet, weshalb die Betriebsgenehmigung aufgehoben wurde. Bis 2001 hielt RWE das Kraftwerk noch betriebsbereit. Versuche, die Restlaufzeit von Mülheim-Kärlich auf Biblis A (RWE) oder Brunsbüttel (Vattenfall) zu übertragen, scheiterten vor Gericht.

Etwa 60 Kilometer von Aachen (oder 125 km von Köln) entfernt ist das über 35 Jahre alte belgische AKW Tihange an der Maas, und auch vom belgischen Atomzentrum Mol, wo derzeit zwei Forschungsreaktoren in Betrieb sind, ist NRW keine 60 Kilometer entfernt.

Nur wenig mehr als hundert Kilometer von NRW entfernt befinden sich die französischen AKW Cattenom (bei Luxemburg) und Chooz (auch an der Maas, aber südlich des belgischen Namür), das belgische AKW Doel bei Antwerpen sowie Biblis A und B von RWE am Rhein bei Worms. Die Städte Aachen, Bonn, Siegen, Kleve und Mönchengladbach sind 115 bis 150 Kilometer von diesen Atomkraftwerken entfernt. Biblis A, das 1975 den kommerziellen Betrieb aufgenommen hatte, wurde im März 2011 gemäß des Merkelschen Atommoratoriums vorläufig vom Netz genommen, allerdings hat RWE dagegen Klage eingereicht und behauptet, jeder Tag des Stillstands bedeute eine Million Euro Verlust. Die Drohung mit entsprechenden Entschädigungsforderungen steht im Raum. Biblis B ist seit 1977 in Betrieb und vom Moratorium der Kanzlerin nicht betroffen.

Atomriesen

Von den vier Konzernen, die den deutschen Strommarkt weitgehend unter sich aufgeteilt haben, haben zwei ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen: RWE und Eon.

Eon mit Sitz in Düsseldorf entstand im Jahr 2000 durch die Fusion von VEBA und VIAG und ist der größte private Energiekonzern der Welt. Eon befindet sich zu über 80 Prozent in Streubesitz, einen kleinen öffentlichen Anteil (unter 2 %) besitzt das Königreich Norwegen. Der Strommix besteht (2009) zu etwa einem Viertel aus Atomenergie, das entspricht dem Bundesdurchschnitt. Dazu ist Eon an neun laufenden AKWs in Deutschland beteiligt. Der Anteil erneuerbarer Energien betrug 2009 mit 8 Prozent nur etwa die Hälfte des Durchschnitts.

RWE (vormals Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk) mit Sitz in Essen ist der zweitgrößte Energieversorgungskonzern in Deutschland. Der Konzern befindet sich ebenfalls überwiegend in Streubesitz, aber fast 17 Prozent von RWE gehören diversen Kommunen. Der Strommix von RWE, das wie Eon zahlreiche der besonders klimaschädlichen Kohlekraftwerke betreibt, besteht zu 18 Prozent aus Atomenergie, dazu besitzt RWE die AKWs Biblis und Emsland sowie Dreiviertel des gemeinsam mit Eon betriebenen leistungsstärksten AKW Deutschlands im Bayrischen Gundremmingen. Auch beispielsweise das einzige kommerzielle niederländische AKW Borssele auf der auch bei nordrhein-westfälischen UrlauberInnen beliebten Halbinsel Walcheren in Zeeland gehört nach Übernahme des privatisierten größten niederländischen Energieversorgers Essent zur Hälfte RWE. Der Anteil der erneuerbaren Energien beträgt bei RWE mit mickrigen 3 Prozent gerade einmal ein Fünftel des Bundesdurchschnitts im Jahr 2009.

Atomanlagen in NRW

Die bedeutendsten Atomanlagen in Nordrhein-Westfalen sind das Transportbehälterlager in Ahaus, die Urananreicherungsanlage in Gronau (beide im Kreis Borken an der Grenze zu den Niederlanden und Niedersachsen) und das Forschungszentrum in Jülich (zwischen Aachen und Köln/Düsseldorf).

Das Zwischenlager in Ahaus, eine oberirdische Lagerhalle, wird betrieben von der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS), die sich auf Atommülllagerung spezialisiert hat. Ihr Hauptsitz ist in Essen, eine Konditionierungsanlage zur Verarbeitung schwach- bis mittelradioaktiver Abfälle steht in Duisburg-Angerhausen (500 Meter neben zwei Grundschulen), eine weitere Betriebsstätte in Mülheim. Die GNS betreibt auch die Zwischenlager in Gorleben. Ebenfalls zur GNS gehört die Ingenieurgesellschaft WTI in Jülich, die Atomanlagen plant. Eigentümer der GNS sind die Stomkonzerne, fast zur Hälfte Eon und zu 28 Prozent RWE; EnBW und Vattenfall sind ebenfalls beteiligt.

Die UAA Gronau ist die einzige kommerzielle Urananreicherungsanlage in Deutschland. Sie gehört wie die Anlagen in Capenhurst (südlich von Liverpool) und Almelo (30 km von Gronau auf niederländischer Seite) der Firma Urenco mit Zentrale in Marlow, westlich von London. Urenco ist zu je einem Drittel in niederländischem, britischem und deutschem Besitz. Das deutsche Drittel teilen sich RWE und Eon.

Urenco hat gemeinsam mit dem staatlichen französischen Atomkonzern Areva als Joint-Venture die Enrichment Technologies Company (ETC) nach englischem Recht mit Hauptsitz im niederländischen Almelo gebildet. ETC entwickelt und baut Aufbereitungsanlagen sowie Gaszentrifugen für Atomkraftwerke. Der wichtigste Standort der ETC in Deutschland ist am Forschungszentrum Jülich mit rund 500 Beschäftigten. ETC möchte nach eigener Darstellung „der weltweit führende Anbieter im Bereich der Urananreicherungstechnologie für die Herstellung von Kernbrennstoffen“ werden. Neben Jülich ist ETC auch bei Urenco in Gronau vertreten.

Eine weitere wichtige Firma der Atomwirtschaft ist die Siempelkamp-Nukleartechnologie GmbH mit Sitz in Krefeld am Niederrhein, die sich unter anderem auf Transportbehälter und Schmelzanlagen für radioaktive Abfälle spezialisiert hat. Die Tochterfirma Siempelkamp Tensioning Systems GmbH mit Sitz im westfälischen Lünen bietet „bedarfsorientierte Lösungen zum Öffnen und Schließen von Reaktordruckbehältern und anderen Primärkreiskomponenten in Kernkraftwerken“. Siempelkamp NIS in Essen bezeichnet sich als „Dienstleister und herstellerunabhängige Lieferanten von schlüsselfertigen Systemen für nukleare und konventionelle Energieanlagen sowie Industriebetriebe weltweit“.

Atomwaffen

Die menschenverachtende Seite der Atomtechnik zeigt sich besonders deutlich bei den Atomwaffen. Ab 1953 wurden in der Bundesrepublik US-Atomwaffen stationiert, bis zu 7000 an rund hundert Standorten. In NRW wurden Atomwaffen vermutlich in den Sondermunitionslagern Büren, Dortmund, Dülmen, Geilenkirchen, Lüdenscheid-Stilleking, Menden-Holzen, Paderborn-Sennelager, Telgte-Münster, Wahner Heide, Werl und Wesel gelagert. Die vermutlich letzten 20 Atomwaffen in NRW befanden sich in Nörvenich (Kreis Düren). Auch wenn heute wohl keine mehr in NRW selbst stationiert sind, sind die verbleibenden NATO-Atomwaffenstandorte Büchel in der Eifel, Volkel bei Nimwegen (Niederlande) und Kleine-Brogel nördlich von Hasselt (Belgien) alle nur 20 bis 30 Kilometer von NRW entfernt. Dort lagern heute schätzungsweise jeweils 10 bis 20 Atomwaffen.

Uranmunition

Ob Unternehmen aus NRW an Geschäften mit Uranmunition beteiligt sind, ist schwer zu belegen. Uranmunition wird vergleichsweise preiswert aus abgereichertem Uran gefertigt, das als Nebenprodukt bei der Urananreicherung anfällt. Bekannte Hersteller sind die amerikanischen Munitionsfirmen GenCorp/Aerojet, ATK und General Dynamics, mit denen teilweise auch die Deutsche Bank geschäftlich verbunden ist. Die britische Firma BAE Systems hat 2006 erklärt, keine uranhaltige Munition mehr zu produzieren. Ob die französische Rüstungsfirma Nexter noch Uranmunition fertigt, geht aus ihren Veröffentlichungen im Internet nicht hervor. Gerüchte im Jahr 2008, dass die belgische Munitionsfirma Mecar in Elsenborn an der deutschen Grenze bei Monschau südlich von Aachen auch Uranmunition teste, wurden nicht bestätigt.

Fazit

Auch wenn in NRW keine Atomkraftwerke derzeit in Betrieb sind, ist Nordrhein-Westfalen alles andere als ein Anti-Atom-Land. Die in NRW ansässigen Energiekonzerne RWE und Eon betreiben von Essen und Düsseldorf aus die größten Atomkraftwerke in anderen Bundesländern. Mit GNS, Urenco, ETC und Siempelkamp sind weitere wichtige Firmen der Atomwirtschaft in NRW tätig, ohne deren Zutun keine Atomkraftwerke in Deutschland betrieben werden könnten. Es ist also noch viel zu tun für den Atomausstieg, auch hier in NRW. Immerhin: einige der genannten Firmen kennen sich gerade auch mit der Stilllegung von Atomkraftwerken aus.

Veröffentlicht in Linksletter, April 2011