Im 300. Jahr nach der Missionierung Grönlands durch den Norweger Hans Egede erobert erneut jemand mit diesem Nachnamen die größte Insel der Welt. Diesmal ist es aber nicht der Beginn der Kolonisierung aus Europa, sondern der junge Vorsitzende der Inuit Ataqatigiit („Gemeinschaft der Inuit“, oder auch „Gemeinschaft der Menschen“), Múte Inequnaaluk Bourup Egede übernimmt die Regierung. Seine ökologisch-linke Partei wurde bei den Wahlen am 6. April 2021 zum zweiten Mal stärkste Partei in Grönland, er selbst hatte mit weitem Abstand vor allen anderen Kandidierenden das beste Ergebnis bei der Personenwahl und ist nun seit dem 23. April Premierminister.
Manche europäische Medien bezeichnen den 34-Jährigen nun als „jüngsten Regierungschef Europas“, was zwar hinsichtlich der Ablösung Sebastian Kurz’ eine erfreuliche Randnotiz wäre, aber ignoriert, dass Grönland 1985 aus der EU ausgetreten ist, geografisch zum nordamerikanischen Kontinent gehört und sowohl die Inuit Ataqatigiit als auch ihr Koalitionspartner, die Partei Naleraq, die weitere Loslösung Grönlands von Dänemark und eine engere Zusammenarbeit mit den Inuit in Kanada und Alaska befürworten.
Nun könnte man diese Wahlen in einem Land mit derselben Bevölkerungszahl wie die rheinische Mittelstadt Stolberg (56.400 Menschen) für ziemlich unbedeutend halten. Während aber die Bedeutung der Gewinnung von Bodenschätzen in Stolberg über die Jahrhunderte drastisch abgenommen hat, spielen sie für Grönland eine immer größere Rolle. Die – wie ernst auch immer gemeinte – Äußerung von Donald Trump im September 2019, die USA wollten Grönland kaufen, spiegelt das wider.
Dabei geht es für Grönland auch darum, die Abhängigkeit vom Fischfang als wichtigstem Wirtschaftszweig zu reduzieren, da dieser durch den Klimawandel und die Fangflotten aus der EU unter Druck steht. Das arktische Land findet sich heute in einer zwiespältigen Lage zwischen Bangen und Hoffen durch den Klimawandel, der die Insel extrem verändert. Dabei werden Landesteile nutzbar, die bisher unter Schnee und Eis unzugänglich waren. Zugleich sind die Auswirkungen für die Natur besonders offenkundig. Der nun mögliche Abbau von Rohstoffen führt zu weiteren erheblichen Umweltschäden. Der Konflikt spitzt sich zu um das Bergbaugebiet Kuannersuit bzw. Kvanefjeld im Süden der Insel, in dem Seltene Erden gewonnen werden sollen.
„Seltene Erden sind Rohstoffe von strategischer Bedeutung für die wirtschaftliche und militärische Sicherheit des Westens. In zahlreichen zivilen und militärischen Technologien sind sie unentbehrlich“, erläutert Jakob Kullik in einem Arbeitspapier für die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Dass China der weltweit größte Produzent von Seltenen Erden ist, stelle „ein erhebliches Risiko für die Versorgungssicherheit des Westens“ dar, so Kullik. „Für die (Zukunfts-)Technologien der Energiewende, wie zum Beispiel vollelektrische Autos, Batterien und vernetzte Industrie-4.0-Anwendungen sind sie zusammen mit einer Reihe weiterer Rohstoffe wie Kobalt oder Lithium die elementare Grundlage. Da all diese zivilen Technologien auch im Militärbereich verwendet werden, haben sie eine strategische Bedeutung für die Funktionsfähigkeit moderner und zunehmend vernetzter Hightech-Armeen. […] Derzeit beträgt die Importabhängigkeit der NATO von Chinas Seltenen Erden nahezu 100 Prozent.“
Das geostrategische Interesse an alternativen Bezugsmöglichkeiten ist dementsprechend groß, und hier kommt Grönland ins Spiel, denn „Die gesamten grönländischen Vorräte an Seltenen Erden reichen aus, um den gegenwärtigen Weltbedarf für 150 Jahre zu decken“, wie Harald Elsner, Seltene-Erden-Experte der deutschen Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) 2012 vermeldete. Allerdings befinden sich die Seltenen Erden in Kuannersuit/Kvanefjeld in einer „Multi-Element-Lagerstätte mit einem, im Vergleich zu anderen SE-Lagerstätten, sehr hohen Anteil von Uran“ (Rüttinger et al.(2015): Fallstudie zu den Umwelt-und Sozialauswirkungen der Gewinnung Seltener Erden in Grönland, Kvanefjeld. Berlin: adelphi. S. 12.).
Ein Abbau an dieser Lagerstelle war somit bis vor wenigen Jahren schon rechtlich nicht möglich, weil in Grönland der Abbau radioaktiver Stoffe verboten war. Nach den Wahlen 2013 scheiterten die Koalitionsgespräche zwischen der zuvor regierenden Inuit Ataqatigiit und den sozialdemokratischen Siumut mutmaßlich an der Uran-Frage. Nach dem Ausscheiden der IA aus der Regierung wurde das Abbauverbot für radioaktives Material aufgehoben.
Der in Australien ansässige Konzern Greenland Minerals treibt seither die Entwicklung des Kvanefjeld-Projektes voran: “Greenland Minerals’ Kvanefjeld Project is positioned to be a future cornerstone to global rare earth supply. When developed Kvanefjeld will be a large-scale, low-cost, long term supplier of products which are at the centre of the unfolding revolution in the efficient use of energy.” Zum Bedauern von Geostrategen wie Kullik ist ein chinesisches Unternehmen mit 11 % größter Anteilseigner an Greenland Minerals.
Bei der Gewinnung Seltener Erden in Kvanefjeld werden erhebliche Mengen an Uran abfallen, die ein großes Umweltproblem darstellen (siehe ausführlich dazu o.g. Studie von Rüttinger e.a.). Der Widerstand in Grönland gegen das Vorhaben wächst deshalb seit Jahren und führte Anfang des Jahres zu einem offenen Konflikt in der Regierung, da die regierende sozialdemokratische Siumut einen Kvanefjeld-skeptischen Vorsitzenden gewählt hatte und ihr Koalitionspartner Demokraatit, die den Rohstoffminister stellten, den Konsens pro Kvanefjeld infragegestellt sahen. Nach dem Ausstieg von Demokraatit gelang es Siumut nicht, eine andere Koalition zu bilden, es kam zu Neuwahlen.
Bei den Wahlen am 6. April legten dann die Siumut sogar leicht zu, wurden aber von links weit überholt durch Inuit Ataqatigiit, die das Bergbauprojekt in Kvanefjeld im Wahlkampf scharf ablehnten. Sie regieren nun mit Naleraq, einer angeblich populistisch-zentristischen Partei, die sich für die Unterstützung der ärmeren Bevölkerungsteile, Verbesserung der Wohnraumsituation und Stärkung des Fischfangs ausgesprochen hat. Außerdem befürwortet Naleraq die zügige Loslösung von Dänemark. Sie ist am neuen Kabinett Egede mit zwei der zehn Ressorts beteiligt.
Unterstützt wurde die neue Regierung auch von der liberal-konservativen Atassut, weil sie ebenfalls das Kvanefjeld-Projekt ablehnt. Allerdings steht sie auf der pro-dänischen Seite und ist deshalb nicht in die Regierung eingetreten. Sie befürwortet die militärische Präsenz der USA in Grönland und die Anbindung über Dänemark an die NATO, während die neue Regierung das Ziel der Entmilitarisierung in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. In dessen Einleitung heißt es: „Das Ziel der Zusammenarbeit ist eine stärkere und hoffnungsvolle Gesellschaft mit einem höheren Maß an Gleichheit. Wir müssen die Wohlfahrtsgesellschaft der Zukunft gestalten, ohne die Umwelt oder den menschlichen Wert zu beeinträchtigen.“ (S. 2) „Der Ausgangspunkt für politische Entscheidungen ist die menschliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Die Koalition muss sicherstellen, dass die Ressourcen der Gesellschaft allen Bürgern zugute kommen.“ (S. 4) Dazu gehören eine Steuerreform und auch Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und gegen Obdachlosigkeit.
Ausführlich wird dargestellt, dass die Regierung einen anderen Politikstil mit sehr viel Transparenz und Verständigung anstrebt – sicherlich eine Konsequenz aus den langjährigen Verwerfungen um das Kvanefjeld-Projekt. Die neue Regierung wird weiterhin darauf setzen, durch Rohstoffgewinnung die Wirtschaft zu entwickeln (S. 12), aber „Die Koalition ist sich einig, dass Uran in Grönland nicht abgebaut werden soll. Das Mineralprojekt bei Kuannersuit soll gestoppt werden. Während dieser Wahlperiode muss daran gearbeitet werden, ein Abbauverbot für Rohstoffe, die radioaktives Material enthalten, zu erlassen“ (ebd.). „Die Koalition glaubt, dass wir als Bürger dieser Welt auch eine gemeinsame Verantwortung als Weltbürger haben. Der Klimawandel hat schwerwiegende Folgen in der Arktis, und die Koalition stimmt zu, dass es eine politische Pflicht gibt, sowohl die Vor- als auch die Nachteile dieser Entwicklung anzusprechen.“ Dazu sollen die Erneuerbaren Energien ausgebaut und an der Umsetzung der „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen gearbeitet werden (S. 13).
Das Wahlergebnis in Grönland ist zweifellos ein Erfolg für die Grönländische Antiatom- und Umweltbewegung, aber auch für die Inuit-Bevölkerungsmehrheit, die sich neben den ökologischen Grundlagen auch mehr Respekt für ihre Kultur und Lebensweise sichern möchte. Dazu gehört auch das Zurückdrängen der Fischfangflotten aus der EU, die einer nachhaltigen einheimischen Fischerei weichen sollen. Pläne zur Privatisierung des staatlichen Fischereikonzerns Royal Greenland werden explizit zurückgewiesen (S. 10 f.).
Nicht zuletzt erwähnt der Koalitionsvertrag auch die geopolitischen Herausforderungen, vor denen das Land steht. Dazu gehören besonders auch die territorialen Fragen in der Arktis. Es ist zu hoffen, dass das am dünnsten besiedelte Land der Welt dem Druck geostrategischer Interessen der Weltmächte standhalten kann.
Die Statue für Hans Egede in Grönlands Hauptstadt Nuuk darf im 300. Jahr nach dessen Ankunft vorerst stehen bleiben. Im vergangenen Jahr war sie, offenbar in Antizipation der Black-Lives-Matter-Bewegung, mit einem Schriftzug „Decolonize“ versehen worden. Die ursprünglich geplanten Feierlichkeiten für den Missionar wurden inzwischen abgesagt.