Zugegeben, der Titel führt etwas in die Irre, aber vor hundert Jahren fand in Berlin die bis dahin größte Friedensdemonstration im Deutschen Reich statt. 200.000 Menschen folgten dem Aufruf der SPD „Gegen die Kriegshetze! Für den Völkerfrieden!“ zur Kundgebung im Treptower Park. Sie verhinderten leider nicht, dass drei Jahre später sogar die SPD selbst von der Kriegsbegeisterung so erfasst war, dass sie sich hinter den Kaiser stellte und im Reichstag den Kriegskrediten zustimmte: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, erklärte der SPD-Vorsitzende Hugo Haase. Rosa Luxemburg hingegen resümierte: „Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen.“
Am selben Tag marschierten bereits deutsche Truppen vom Rheinland völkerrechtswidrig in das neutrale Belgien ein, wo sie in den folgenden Wochen zahlreiche Kriegsverbrechen begingen. In Löwen brachten sie 248 ZivilistInnen um und brannten zahlreiche Häuser nieder, in Dinant ermorden sie 678 Menschen, ein Sechstel der EinwohnerInnen der Kleinstadt. Insgesamt werden bis Oktober 1914 allein in Belgien fast 6500 ZivilistInnen umgebracht – nicht wegen des belgischen Widerstands (den es nur vereinzelt gab), sondern aus „kollektiver Autosuggestion, wie er in einem modernen Heer seinesgleichen suchen dürfte“, so die irischen Historiker John Horne und Alan Kramer. Was mit diesen Verbrechen begann, wurde bald zum ersten Weltkrieg.
Nach dessen Ende riefen 1919 Karl Vetter, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky zur Gründung des „Friedensbundes der Kriegsteilnehmer“ auf: „Der Weltkrieg ist vorbei. Wenn er einen Sinn gehabt haben soll, kann es nur der gewesen sein, die Völker über den Aberwitz bewaffneter Auseinandersetzungen zu belehren. Auch solche gigantischen Lehren werden jedoch rasch vergessen. Es gilt, die Erinnerung an die Leiden, das Blut, den Schmerz, das unterdrückte Menschentum wachzuhalten. Vor allem müssen sich die Kriegsteilnehmer hierfür einsetzen. Sie wissen, was 'Krieg' heißt. Sie müssen daher mit allen Mitteln gegen den Krieg und für den Frieden kämpfen.“ Zur mahnenden Erinnerung an den Ausbruch des Weltkriegs organisierten sie mit der Nie-wieder-Krieg-Bewegung ab 1920 jährlich am 1. August eine Kundgebung. Immerhin 15.000 Menschen beteiligten sich im ersten Jahr, 1921 waren es bereits 200.000. Schließlich demonstrierten reichsweit bis zu einer Halben Million Menschen am Antikriegstag.
Mit der Machtübergabe an Hitler wurde ab 1933 auch jegliche Friedensbewegung unterdrückt, schon im Januar 1933 wurde die erste Liste verbotener Bücher erstellt, darunter viele pazifistische Schriften oder gleich Sämtliches von Autoren wie Kurt Tucholsky. Die 1892 gegründete Deutsche Friedensgesellschaft wurde zerschlagen. 1938 wurde noch einmal eine erweiterte Liste verbotener Schriften erstellt, zu der selbst kleinere Schriften wie das Jahrzehnte zuvor erschienene (immer noch lesenswerte) Bändchen „Die Frau und der Friede“ der Schweizer Pazifistin Clara Ragaz hinzukamen. Dass im folgenden Jahr der Krieg begonnen würde, war bereits absehbar.
Auf persönliche Weisung Hitlers, „Der Angriff gegen Polen ist nach den [...] getroffenen Vorbereitungen am 1.9.39 um 4 Uhr 45 zu führen.“, überfällt die deutsche Wehrmacht am Morgen des 1. September 1939 Polen. Es folgt der Zweite Weltkrieg mit Millionen Toten und noch schrecklicheren Kriegsverbrechen als zuvor.
Nach dem Krieg ist diesmal nicht nur die deutsche Arbeiterbewegung gespalten, sondern auch der Staat. In der DDR wird ab Anfang der 1950er Jahre der 1. September als „Weltfriedenstag“ begangen. Im Westen ruft der DGB 1957 mit dem Slogan „Nie wieder Krieg“ aus den Zwanziger Jahren erstmals wieder zum Antikriegstag auf, ebenfalls für den 1. September. Monate zuvor waren Pläne des Bundeskanzlers Adenauer zur Stationierung von Atombomben in Deutschland bekannt geworden. Laut Umfragen waren 67% dagegen, dennoch wurde Adenauer – auch unter geschickter propagandistischer Nutzung der Unterdrückung des antistalinistischen Aufbruchs in Ungarn im Herbst zuvor – am 15. September wiedergewählt. 1958 billigte der Bundestag mit den Stimmen von CDU und CSU die Stationierung von Atomwaffen. Tatsächlich befanden sich schon seit 1953 Atomwaffen auf US-Stützpunkten in Mainz, Nürnberg, Bamberg und Grafenwöhr.
1961, es war wieder Wahlkampf, legte Adenauer noch einen drauf: Vor 50 Jahren sprach er sich in einer Wahlkampfrede in Hannover ausgerechnet am 1. September jetzt auch öffentlich für eigene deutsche Atomwaffen aus. Die CDU verlor zwei Wochen später zwar ihre absolute Mehrheit im Bundestag, konnte aber dank FDP mit Adenauer weiter regieren.
Die großen Friedensdemonstrationen der 1980er Jahre gegen den von der SPD unter Helmut Schmidt mitgetragenen NATO-Doppelbeschluss fanden nicht am Antikriegstag statt, aber in gewisser Nähe zu diesem Termin. 300.000 Menschen demonstrierten am 10. Oktober vor 30 Jahren in Bonn, im Jahr darauf waren es eine halbe Million. Die letzte aus der Reihe der großen westdeutschen Friedensdemonstrationen war vor 25 Jahren ebenfalls im Oktober in Hasselbach im Hunsrück. Bei den Demonstrationen gegen den Golfkrieg vor 20 Jahren gingen erneut hunderttausende bundesweit auf die Straßen.
Veröffentlicht in: Linksletter, August 2011